Wie deine Kindheit dein heutiges Verhalten beeinflusst

Die Art und Weise, wie wir aufwachsen, prägt uns. Niemand wird bestreiten, dass Kinder aus verschiedenen Kulturen ihr späteres Erwachsenenleben unterschiedlich gestalten. Doch was für einen Einfluss hat unser Umfeld wirklich auf uns? Was fangen wir an zu glauben, wenn wir als Kinder Leid erfahren?

Vorbilder und Bewertungen

In den ersten Lebensjahren waren wir ein „unbeschriebenes Blatt“, wir hatten noch keine Vorstellung von der Welt. Als kleine Kinder nahmen wir alles, was wir hörten, spürten, riechten und fühlten unreflektiert auf und lernten durch Nachahmung. Da wir in diesen jungen Jahren emotional wie körperlich von unseren Bezugspersonen abhängig waren, hinterfragten wir nicht, was diese sagten und taten. So übernahmen wir von unseren Eltern Ansichten, Bewertungen, fremde Wahrheiten und Überzeugungen über uns selbst und die Welt, wie z.B. «du musst artig sein», «die Welt ist gefährlich» oder «du bist zu dick». Diese frühen Erfahrungen wurden zu festen Glaubenssätzen, die uns auch im späteren Leben beeinflussen. Zum Beispiel könnte ein Kind, das immer wieder hörte, es müsse „artig“ sein, später im Leben die Überzeugung entwickeln, dass es nur durch Anpassung und Konformität geliebt wird.

Als Kleinkinder waren wir so sehr von unseren Bezugspersonen abhängig, dass wir vieles taten, um diese Beziehungen nicht zu gefährden. Wir nahmen negative Reaktionen unserer Eltern gerne an uns, und gaben uns selbst die Schuld für widrige Situationen, da die Eltern ja schon wüssten, was sie tun. Dieses Phänomen beobachte ich z.B. bei Scheidungskindern: sie suchen die Schuld für die Trennung bei sich selbst, um nicht die Eltern hinterfragen zu müssen.

Aus diesen Dynamiken entstehen tief verankerte Überzeugungen und Glaubenssätze, die wir - oft unbewusst - in unser Erwachsenenleben integrieren. Der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann bringt das Phänomen Glaubenssätze so auf den Punkt: „Für einige unserer wichtigsten Überzeugungen haben wir überhaupt keine Beweise, ausser dass Menschen, die wir lieben und denen wir vertrauen, diese Überzeugungen vertreten. Wenn man bedenkt, wie wenig wir wissen, ist das Vertrauen, das wir in unsere Überzeugungen haben, absurd.“

Einfluss der Umgebung und der Gesellschaft

Unsere Prägungen gehen natürlich über unsere engen Bezugspersonen hinaus, soziale und kulturelle Einflüsse spielen ebenfalls eine wesentliche Rolle. Werte und Normen einer Gesellschaft beeinflussen unser Selbstbild und unsere Überzeugungen. Unsere gesellschaftlichen Werte variieren je nach Kultur und Epoche. Wir passten uns als Kinder diesen Werten an, ohne bewusst darüber nachzudenken - wir kannten ja auch nichts anderes. Diese gesellschaftlichen Prägungen werden oft erst sichtbar, wenn man die eigene Kultur verlässt und andere Perspektiven erlebt. Vielleicht wurde dir dies auf einer deiner Reisen auch schon bewusst, als du beispielsweise die Schweizer Pünktlichkeit vermisst hattest, während Einheimische Verzögerungen kaum wahrgenommen hatten. Ganz nach der Überzeugung: “man ist immer pünktlich”.

Schmerzhafte oder traumatische Erfahrungen

Unser Umfeld und vor allem unsere engen Bezugspersonen wie die Eltern beeinflussen uns also oft unbewusst in unserem späteren Leben. Darüber hinaus sind extreme oder traumatisierende Erlebnisse in der Kindheit besonders einschneidend. Wenn du als Kleinkind ins Wasser gefallen bist und Angst hattest, zu ertrinken, hast du möglicherweise dein ganzes Leben lang ein ungutes Gefühl bei tiefem Wasser. Vielleicht ist dir nicht einmal bewusst, dass ein traumatisches Erlebnis aus deiner Kindheit der Grund dafür ist. Bis du das Thema auf einer tieferen Ebene reflektierst und dich plötzlich wieder an dieses einschneidende Erlebnis erinnerst.

Wenn die engen Bezugspersonen Grund für deine schmerzhafte Erfahrungen sind, entstehen besonders starke Prägungen. Ein Kind, das von seinem Vater geschlagen wurde, könnte z.B. den Glaubenssatz «ich bin nichts wert» entwickeln. Da traumatisierende Erlebnisse oft als Selbstschutz sehr tief verdrängt werden, weiss auch diese erwachsene Person wahrscheinlich nicht, warum sie von der eigenen Wertlosigkeit überzeugt ist.

Psychische Grundbedürfnisse

Tiefe Prägungen stehen fast immer im Zusammenhang mit unseren Bedürfnissen, die in einschneidenden Situationen oft vernachlässigt wurden. Die Bestseller-Autorin und Psychologin Stefanie Stahl ist überzeugt, dass nichts prägender ist als die Verletzung unserer wichtigsten Grundbedürfnisse. Für sie ist die Verletzung der Bedürfnisse nach Bindung, Autonomie und Kontrolle, Lustbefriedigung bzw. Unlustvermeidung und Selbstwerterhöhung resp. Anerkennung, die Ursache aller psychischer Probleme! Wurden bei uns als Kind diese psychischen Grundbedürfnisse regelmässig vernachlässigt oder nicht verstanden, haben wir sehr viel dafür getan, dass diese Bedürfnisse Raum erhielten. Möglicherweise fingen wir an, Gefühle zu unterdrücken, um Verletzungen und Bestrafungen auszuweichen. Wenn wir zum Beispiel angepasst statt wütend reagiert hatten, behielten wir die Bindung zu unseren Eltern. Das mochte in der aktuellen Situation das Bedürfnis nach Bindung befriedigen, kann aber der Keim sein für einen Glaubenssatz wie «ich darf nicht wütend sein» oder «niemand mag mich so, wie ich bin».

Was haben diese Prägungen nun mit unserem heutigen Verhalten zu tun?

Schauen wir uns die in der Kindheit entstandenen Überzeugungen aus den obigen Beispielen in Bezug auf unser Verhalten als Erwachsene an:

  • “ich muss artig sein”: Mit diesem Glaubenssatz passt du dich vor allem bei Unsicherheit stets an. Du tust das, was andere von dir verlangen - ob das nun den eigenen Bedürfnissen entspricht oder nicht.

  • “die Welt ist gefährlich”: Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob du die Welt für gefährlich hältst, oder ob du sie als ein Ort der Freude und Möglichkeiten wahrnimmst. In dieser Überzeugung stecken viele Ängste und wenig Vertrauen. Du probierst wahrscheinlich selten Neues aus, sicherst dich vor allen möglichen Schreckensszenarien ab und weist deine eigenen Kinder wiederholt auf mögliche Gefahren hin.

  • “ich bin zu dick”: Wenn dir dies schon als Kind immer wieder von wichtigen Bezugspersonen gesagt wurde, ist die Chance grösser, dass du heute noch dick bist, als wenn dir diese Überzeugung nicht “eingeimpft” wurde. Es fällt dir schwer, deine Essgewohnheiten umzustellen und aktiv etwas an deinem Gewicht zu ändern. Denn es ist ja eine Tatsache, an die du wirklich glaubst; du bist nun mal zu dick.

  • “ich bin Schuld an der Trennung meiner Eltern”: Wenn du diesen Glaubenssatz in dir trägst, machst du dir selbst immer wieder Vorwürfe. Du gehst nicht liebevoll mit dir um und erinnerst dich immer wieder an diese Schuld . Das kann auf einer bewussten Ebene geschehen, oder subtil mit einem unterschwelligen Gefühl der Selbstverurteilung.

  • “Schwimmen ist lebensgefährlich”: Dieser Satz birgt ein anschauliches Beispiel, wie Ängste auf uns wirken. Du akzeptierst kaum Gegenargumente, denn es ist eine Tatsache, dass man beim Schwimmen ertrinken kann. Es fällt dir sehr schwer, die Perspektive einzunehmen, dass Schwimmen Spass macht, gut für den Körper ist und nur in extremen Situationen lebensbedrohlich ist.

  • “ich bin nichts wert”: Du bemerkst diesen Glaubenssatz vor allem dann, wenn dir gutes widerfahren könnte, das du aber nicht annehmen kannst. Weil du es nicht wert bist. Eine solche Überzeugung geht sehr tief, da unser Selbstwertgefühl einen grossen Einfluss auf unser Wohlbefinden hat.

  • “ich darf nicht wütend sein”: Schon als Kind hast du deine Wut runtergeschluckt, und du tust es noch immer. Bis es nicht mehr geht, deine Gefühle aus dir heraussprudeln und du dich in einem Wutausbruch wiederfindest. Es gelingt dir nicht, deine Wut anzunehmen, und die gewaltige Energie, die darin steckt, positiv zu nutzen.

  • “niemand mag mich so, wie ich bin”: Mit dieser Überzeugung wirst du dich so verhalten, wie du denkst, dass andere dich am liebsten mögen. Du wirst dich deinem Gegenüber anpassen und dich aus Angst vor Ablehnung nicht trauen, dein wahres Wesen zu zeigen, sondern dich permanent verstellen.

Du siehst, Glaubenssätze und innere, oft unbewusste Überzeugungen haben einen enormen Einfluss auf unser Leben! Da ein grosser Teil davon in jungen Jahren entsteht, hat unsere Kindheit viele von uns auch nach Jahrzehnten immer noch fest im Griff.

Die gute Nachricht ist: Es gibt auch positive Überzeugungen, die wir aus unserer Kindheit mitnehmen. Es ist gut möglich, dass dir von deinem Umfeld gespiegelt wurde, dass die Welt ein schöner, sicherer Ort ist. Dass du gut bist, genau so, wie du bist. Und dass Schwimmen Spass macht!

Und noch eine gute Nachricht ist: Im Coaching können wir limitierende Überzeugungen aufdecken und an ihnen arbeiten. Wir können sie sichtbar machen und bewusst entscheiden, ob wir sie loslassen möchten. Wir können neue Überzeugungen annehmen und ihren positiven Einfluss in unserem Leben integrieren.

Quellennachweis:
Stahl Stefanie (2015): Das Kind in dir muss Heimat finden. Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme. Kailash Verlag 2015
Kahnemann, Daniel (2011): Thinking, Fast and Slow. 2011 Macmillan, Seite 209 (übersetzt aus dem Englischen)
Living Sense GmbH, Weiterbildung “Schattencoaching”
Foto von Oskar Kadaksoo auf Unsplash

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